Polizeigewalt in Deutschland: Verfahren gegen Polizisten werden fast immer eingestellt. Verurteilungsquote unter einem Prozent

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Februar 6, 2011

Polizeigewalt in Deutschland. Bei Polizeigewalt werden Strafverfahren gegen Polizisten fast immer eingestellt

Im Jahr 2010 wurden in Nordrhein-Westfalen (NRW) mehr als 1.400 Ermittlungsverfahren gegen Polizisten eingeleitet, doch nur in 17 Fällen kam es zu einer Verurteilung...

Auch die Menschenrechtsorganisation Amnesty International sieht er erhebliche Mängel bei Ermittlungen zu Polizeigewalt. Hier fehlen unabhängige Untersuchungen.

Von den 1.434 eingeleiteten Verfahren gegen Polizisten wegen Polizeigewalt 2010 kam es nur zu 17 Verurteilungen, unter anderem wegen Beleidigung, Körperverletzung, Unterschlagung und Aussageerpressung. Das teilte die Landesregierung auf Anfrage der Linksfraktion im Landtag mit. 2011 gab es bis Anfang Juni bisher 593 Ermittlungsverfahren. Zwei Polizeibeamte wurden wegen Körperverletzungsdelikten angeklagt.

Aufsehen erregte in der Vergangenheit der Tod von Adem Özdamar , der 2008 nach einem Verhör auf der Polizeiwache in Hagen gestorben war. Die Ermittlungen gegen die elf Beamten wurden allesamt eingestellt. Ein weiterer Fall, der durch die Schlagzeilen ging ist der Fall des Afrikaners Oury Jalloh, der 2005 im Dessauer Polizeigewahrsam verbrannte.

Durch die Presse ging auch der Fall von Tennessee Eisenberg aus Berlin. "Ja, dann schießt doch", soll Tennessee Eisenberg noch gerufen haben, ehe die Beamten ihn erschossen, 16-mal. Zwölf Kugeln trafen ihn. Eisenberg starb noch am gleichen Tag. Mit einem Messer habe der 24-jährige Student aus Regensburg einen Mitbewohner bedroht, erklärten später die Polizeibeamten, die am Vormittag des 30. April 2009 mit acht Beamten angerückt waren, nachdem ein Mitbewohner aus Angst vor dem bewaffneten Eisenberg um Hilfe gerufen hatte...

Hatten die Beamten trotz Überzahl und Ausrüstung mit Schlagstöcken und Pfefferspray wirklich keine andere Wahl, als zur Schusswaffe zu greifen? Für eine Anklage gegen die Polizisten bestehe "kein genügender Anlass", befand die Staatsanwaltschaft.

Das Oberlandesgericht Nürnberg, vor dem Eisenbergs Eltern durchsetzen wollten, dass die beiden Beamten angeklagt werden, hat den Antrag als unbegründet verworfen. Jetzt haben sich die Eltern an das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe gewandt.

Monika Lüke, Generalsekretärin von Amnesty International Deutschland, meint, das es zwar in Deutschland keine systematische Verletzung der Menschenrechte gibt, aber "Der Korpsgeist", so Lüke, "das missverstandene Wir-Gefühl führt dazu, dass sich die Polizisten gegenseitig decken."

Tatsächlich ist die Erfolgsrate der Polizei bei internen Untersuchungen zu Polizeigewalt auffallend gering. So wurde allein im Jahr 2008 gegen Berliner Polizisten in 636 Fällen wegen Körperverletzung im Amt ermittelt. In 615 Fällen stellte die Staatsanwaltschaft die Verfahren ein, sechs beschuldigte Beamte wurden von einem Gericht freigesprochen, nicht einer verurteilt.

Oftmals könnten gewalttätige Polizisten nicht zur Rechenschaft gezogen werden, weil ihre Identifizierung nicht möglich ist, so der Bericht von Amnesty International. Wie im Fall des damals 33-jährigen Kommunikationsingenieurs, der im August 2005 in der Berliner Diskothek "Jeton" seinen Junggesellenabschied feierte, als um 1.30 Uhr ein Spezialeinsatzkommando der Polizei auf der Suche nach gewalttätigen Fußballfans den Club stürmten. Der Ingenieur von mehreren Polizisten zusammengeschlagen. Diagnose: Schädel-Hirn-Trauma und zwei Platzwunden am Kopf. Außer ihm wurden 21 weitere Personen verletzt. Die Staatsanwaltschaft erklärte später, das es bei dem Einsatz zu unverhältnismäßiger Gewalt gekommen war, aber keiner der Polizisten musste sich vor Gericht verantworten. Die Beamten trugen bei dem Einsatz Masken, das keiner der Zeugen in der Lage war, die Gewalttäter zu identifizieren.

"Wir fordern deshalb eine Kennzeichnungspflicht für Polizisten entweder durch Namen oder durch Nummern", so Amnesty International. In anderen Ländern sei das bereits selbstverständlich.

Konrad Freiberg, Vorsitzender Gewerkschaft der Polizei, wehrt sich gegen solche Forderungen. Wären die Namen der Beamten immer sichtbar, würde es auch zu privaten Bedrohungen kommen, sagte er. "Das Risiko, das der Einzelne eingeht, ist einfach zu groß." Auch eine unabhängige Ermittlungskommission halte er nicht für sinnvoll. "Es kann nur jemand ermitteln, der das Polizeihandwerk gelernt hat und an Recht und Gesetz gebunden ist."

Polizisten, die im Dienst gewalttätig geworden sind und Menschen verletzt oder getötet haben, müssen nicht ernsthaft vor einer Strafverfolgung Angst haben. Wenn überhaupt ein Ermittlungsverfahren gegen sie eingeleitet wird, so wird es meistens mangels hinreichenden Tatverdachts eingestellt. Auch bei schweren Verfehlungen kommt es extrem selten zu einer Verurteilung.

Tobias Singelnstein, Professor für Strafrecht an der Freien Universität Berlin, hat ausgerechnet, dass etwa 95 Prozent der eingeleiteten Strafverfahren gegen Polizisten wegen Körperverletzung im Amt von der zuständigen Staatsanwaltschaft eingestellt werden: Ein Wert, der quot;erheblich über dem Durchschnitt" der Körperverletzungsverfahren liegt. In Hamburg kam es 2007 bei 366 tatverdächtigen Polizisten in keinem einzigen Fall zu einer Anklage. Im Jahr 2005 waren es bei 459 Tatverdächtigen vier Anklagen und 2003 bei 491 Tatverdächtigen immerhin sieben.

In Berlin wurde im Jahre 2008 gegen 636 Beamte wegen Körperverletzungsvorwürfen ermittelt. In 615 Fällen stellte die Staatsanwaltschaft das Verfahren ein. Sechs Beschuldigte wurden freigesprochen, keiner wurde verurteilt. Im Jahr zuvor war ein Beamter schuldig gesprochen worden.

Die Polizei rechtfertigt solch schlechte Zahlen mit dem Argument, dass erwischte Tatverdächtige oft Falschbeschuldigungen gegen Polizeibeamte erheben. Und tatsächlich gehört es zum Standardrepertoire gefasster oder überführter Personen, Misshandlungen durch Polizisten zu behaupten. Unter den Anzeigeerstattern sind zahlreiche Schwindler, die sich durch die eigene Opferrolle Vorteile vor Gericht ausrechnen.

Den schwarzen Peter dem anderen zuzuschrieben würde nicht funktionieren, wenn die Beamten Videokameras mit sich führen würden, die sie während ihres gesamten Dienstes überwachen.

Beweise werden vernichtet - Opfer werden zu Täter

Schlagzeilen machte der Fall im bayrischen Pfaffenhofen, wo am 15. November 2010 die Familie Eder von einem zehnköpfigen Einsatzteam der Polizeiinspektion Rosenheim grundlos krankenhausreif geprügelt wurde. Den 65-jährigen Josef Eder, selbst Polizist im Ruhestand, mißhandelten die Beamten in seinem eigenen Haus so stark, dass er zeitweise das Bewusstsein verlor. Ärzte des Klinikums Rosenheim diagnostizierten später ein Bauchtrauma, Prellungen an Stirn und Wange, Bewegungseinschränkung des Halses, Verletzungen an Ellenbogen und Handgelenken. Der Patient "weint viel und leidet sehr", so der Arztbericht, "er hyperventiliert". Das Krankenblatt dokumentiert Schwindel, starkes Kopfweh und Schmerzen in der Nierengegend aufgrund zahlreicher Tritte und Schläge. Eine Woche muss Eder das Klinikbett hüten. Seiner Frau und der 36-jährigen Tochter ergeht es nicht besser. Auch sie müssen wegen Bauchtraumata, starker Schädel- und Rippenprellungen für eine Woche ins Krankenhaus. Das vierte Opfer, Eders Schwiegersohn, der seiner Frau zu Hilfe eilte, hat ebenfalls unzählige Verletzungen und Hämatome. Im Attest steht: "Es dominiert der psychische Ausnahmezustand." Unverletzt blieb nur der 3 Jahre alte Enkel.

Die Polizisten in Zivil suchten eigentlich nach einem früheren Mieter der Eders, der aus dem Mehrparteienhaus, das der Familie gehört und in dem sie wohnt, schon lange ausgezogen war. Als Eders Tochter Sandra an ihrer Wohnungstür darauf beharrte, die Dienstausweise der ihr unbekannten Männer zu sehen, die sich ihr erst gar nicht vorgestellt hatten, wurden die Beamten grob. Sie stellten den Fuß in die Tür, zerrten die Frau heraus und schlugen auf sie ein. Auch auf den herbeieilenden Ehemann und Sandras Eltern hagelte es Schläge der inzwischen auf zehn Mann angewachsenen Einsatztruppe nieder, sie wurden zu Boden geworfen, fixiert und mit Handschellen gefesselt. Erst als die 62-jährige Mutter Eder einen Nervenzusammenbruch erlitt und nicht mehr aufhören konnte zu schreien, riefen die Beamten den Krankenwagen.

Im Februar 2012 kam es zum Prozess vor dem Amtsgericht Rosenheim. Doch auf der Anklagebank sitzen nicht die Beamten, sondern die Eders. Wegen Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte und Körperverletzung. Die Rosenheim-Cops haben behauptet, von der Familie angegriffen worden zu sein. Die junge Frau in der Tür habe geschrien und sich in provokantem Tonfall geweigert, sich auszuweisen. Außerdem habe sie versucht, die Wohnungstür zuzuschlagen. Ihr Vater sei mit aggressivem Blick herbeigeeilt und habe sich bedrohlich aufgebaut. Er sei auf die Beamten losgegangen, weshalb sie ihn in den "Schwitzkasten" hätten nehmen müssen.

Der Fall Eder war von den eigenen Kollegen der Beamten aus der Kripo Rosenheim "aufgeklärt" und von der Staatsanwaltschaft Traunstein zur Anklage gebracht worden. Keiner der gewalttätigen Beamten wurde je als Beschuldigter vernommen. Anstatt gegen die Polizisten zu ermitteln, wie es ihre Pflicht gewesen wäre, hatten die Staatsanwälte deren Version von den höflichen Beamten und den aggressiven Eders übernommen. Der Presse hatten sie mitgeteilt, die Beamten hätten "rechtmäßig gehandelt", und der bayerische Innenminister Joachim Herrmann hatte bei einer Landtagsdebatte am 27. September 2011 betont, seine Polizei verdiene keine Kritik, sondern ein "herzliches Dankeschön". Dabei war erst wenige Tage zuvor der Chef der Rosenheimer Polizei - also der Vorgesetzte der Einsatztruppe Eder - wegen einer anderen Gewalttat vom Dienst suspendiert worden: Ihm war vorgeworfen worden, einen mit Handschellen gefesselten 15-Jährigen zusammengeschlagen zu haben. Im Internet kursierten bereits die Bilder vom stark blutenden Opfer mit den ausgeschlagenen Zähnen. (Der Polizeichef wird im kommenden November vor Gericht stehen. Es sei nicht davon auszugehen, dass er den Sachverhalt vollumfänglich einräume, teilt die Staatsanwaltschaft mit.)

Die Gerichtsverhandlung vor dem Amtsgericht Rosenheim entwickelt sich dann aber unerfreulich für die Beamten, vor allem, weil die Eders die Öffentlichkeit suchen und allen Journalisten, die sie hören wollen, ihre Geschichte erzählen. Außerdem kommt heraus, dass die Polizeibeamte Beweismittel vernichtet haben, indem sie jene Fotos löschten, die Mutter Eder mit ihrer Kamera von dem Einsatz gemacht hatte. Den Eders ist es allerdings gelungen, die Bilder auf private Kosten wiederherstellen zu lassen. Gleichzeitig wird im Prozess klar, dass Beamte Aussagen manipuliert und untereinander abgestimmt hatten. Trotzdem wird der Fall auch vor Gericht nicht geklärt. Nach sieben Verhandlungstagen überrascht der Richter die Eders am 11. Mai 2012 mit dem Angebot, das Verfahren einzustellen. Dabei ließ die Beweislage längst einen Freispruch erwarten. Die Eders, entmutigt durch die Feindseligkeit der Justiz und die finanziellen Belastungen, stimmen dem faulen Frieden zu. Auf den Anwaltskosten bleiben die vier Angeklagten jetzt allerdings sitzen. "Da arbeitet man ein Leben lang", sagt die Mutter Eder, eine ehemalige Telekom-Angestellte, "und dann braucht man ein Vermögen, um sich gegen die Polizei zu wehren." Sie hat immer noch mit den Folgen des Polizeieinsatzes zu kämpfen. Die dabei entstandenen Hand- und Fußgelenksverletzungen sind nicht richtig verheilt. Auch sieht sie seither auf einem Auge fast nichts mehr. Ihr Mann, der dem Rechtsstaat früher als Polizeibeamter gedient hat, sagt heute: "Der Staat stellt sich als Festung gegen seine Bürger." Eders Stimme zittert noch immer vor Fassungslosigkeit, wenn er von der "organisierten Staatskriminalität in Rosenheim" spricht, die brave Bürger misshandelt und dann vor Gericht zerrt, wo ihnen nicht Recht, sondern weiteres Unrecht geschieht.

Polizeiinternen Befragungen aus den Jahren 1998 und 2001 zufolge waren 25 Prozent der Beamten der Meinung, hin und wieder sei es durchaus akzeptabel, mehr Gewalt anzuwenden als erlaubt.

Und sechs von zehn Polizisten gaben an, auch gravierender Gewaltmissbrauch von Kollegen werde nicht immer berichtet oder angezeigt.

Dafür behauptet die Polizei umso eindringlicher, selbst übermäßig häufig Attacken von Bürgern ausgesetzt zu sein. Nachrichten über "wachsende Gewalt gegen Polizeibeamte" werden von den einflussreichen deutschen Polizeigewerkschaften immer wieder gern in die Medien gebracht, obwohl es dafür keine erst zu nehmende Untersuchung gibt, die das bestätigt. Die Behauptung steht im Raum und wird nicht angezweifelt, aber auch nicht bewiesen...

Polizeiforscher Singelnstein untersuchte mehrere Eskalationen, bei denen es zu Gewalt zwischen Bürgern und Polizei ging und kam zu dem Schluß, das es nicht wirklich von Bürgern ausgeht. Der Grund kann ebenso in der "erhöhten Bereitschaft der Polizisten zum Einsatz von Zwangsmitteln" zu suchen sein. "Die Polizei pflegt ihre Opferrolle", sagt Singelnstein.

Im Zeitalter der Technik, wo jeder ein Handy zur Hand hat, werden immer häfiger aus dem Ruder laufende Polizeieinsätze spontan aufgenommen und im Internet veröffentlicht. Dadurch wird es der Strafverfolgung immer schwieriger, Polizeigewalt zu ignorieren.

Am 12. September 2009 filmen Unbeteiligte beispielsweise, wie zwei Uniformierte während der Demonstration "Freiheit statt Angst" in Berlin einen Mann mit Fahrrad attackieren und ins Gesicht schlagen. Der Mann hat die Staatsgewalt gegen sich aufgebracht, weil er einen Beamten, dessen Verhalten ihm missfallen hatte, nach seiner Dienstnummer gefragt hat. Unter anderem dieser Vorfall führte dazu, dass Berlin als erstes Bundesland die sogenannte Kennzeichnungspflicht für Polizisten einführte. Die 16.000 Polizeibeamten der Hauptstadt müssen nun seit September 2011 ihren Namen oder ihre Nummer an der Uniform tragen und sind damit identifizierbar. So kann keiner mehr im Schutze von Anonymität und Einheitslook zuschlagen. Bis Ende April 2012 kam es daraufhin zu 23 Beschwerden und sechs Strafverfahren gegen Berliner Beamte.

2008 nahmen zwei pfälzische Polizisten auf Nachtstreife die Verfolgung eines Pkw auf, weil der eine durchgezogene Mittellinie überfahren hatte. Mit Blaulicht, Martinshorn und 140 Stundenkilometern fegte der Polizeiwagen hinter dem Flüchtigen durch eine von einem Weinfest belebte Innenstadt. In einer Sackgasse kam der Verfolgte zum Stehen. Jetzt gaben die Beamten mehrere Schüsse auf ihn ab. Ein Projektil drang auf Kopfhöhe durch die Heckscheibe. Wie durch ein Wunder überlebte der Mann. Er flüchtete in seine Wohnung, wo er sich widerstandslos festnehmen ließ. Gegen die Beamten wurde nie ermittelt.

Im April 2010 kam der Wagen eines 19-Jährigen nach einer rasenden Verfolgungsjagd mit der Polizei von der Straße ab und überschlug sich mehrmals. Der junge Mann wurde aus dem Auto geschleudert und starb. Grund der Jagd: Der Fluchtfahrer hatte keinen Führerschein.

Im November 2010 gab eine Polizeistreife in Nordrhein-Westfalen mehrere Schüsse auf einen Geländewagen ab, der durch mangelhafte Beleuchtung aufgefallen war. Der Fahrer hatte auf das Haltezeichen der Beamten nicht reagiert, sondern Gas gegeben und das Weite gesucht. Er wurde schließlich gestellt und kam mit dem Leben davon.

Der Polizeibeamte Thomas Feltes leitete zehn Jahre lang eine Polizeihochschule und hat nach Ursachen für Polizeiübergriffen gesucht. Die Sozialisierung eines Beamten führe im Laufe der Jahre zu einer Vermischung von staatlichem Auftrag und persönlichem Interesse. In bestimmten Situationen neige er zu übermäßiger Gewalt, "um die Autorität des eigenen Handelns, die Autorität der Polizei als Institution und die des Staates aufrechtzuerhalten". Sich gegenüber dem Bürger nicht durchsetzen zu können werde als "nicht akzeptabel angesehen".

Polizei macht Meinung - Aus Opfer werden Täter

Unbesonnen handelten Polizeibeamte in Anhausen am 17. März 2010, als ein zehnköpfiges Sondereinsatzkommando der Polizei Rheinland-Pfalz den Konditormeister Karl-Heinz Becker in den frühen Morgenstunden im Schlaf überraschte, um eine Hausdurchsuchung vorzunehmen. Becker, Mitglied der Rockergruppe Hells Angels, soll ein halbes Jahr zuvor an der Nötigung einer Prostituierten beteiligt gewesen sein, die ihren Wohnwagen an einer von aufgebrachten Konkurrentinnen bereits besetzten Parkbucht aufgestellt hatte. Was die Beamten bei ihm zu finden hoffen und worin bei einem derartigen Vorwurf der Erkenntnisgewinn einer Durchsuchung bestehen soll, wird später nicht geklärt.

Der Polizei ist bekannt, dass Becker im legalen Besitz von Schusswaffen und nicht vorbestraft ist. Sie weiß auch, dass Unbekannte einen Monat zuvor in sein Einfamilienhaus eingebrochen sind, alles durchwühlt und einen Revolver gestohlen haben. Und man weiß durch die Telefonüberwachung der Zielperson noch etwas: Becker hat direkt am Abend zuvor die ernst zu nehmende Warnung erhalten, ein Mitglied der konkurrierenden Rockergang Bandidos plane einen Anschlag auf die örtlichen Hells Angels, möglicherweise mit einer Panzerfaust.

In den Strafakten ist festgehalten, wie der Einsatz vor sich ging: Es ist noch dunkel, als die Beamten des Sondereinsatzkommandos sich vor Beckers Haus versammeln. Sie klingeln nicht erst, sondern versuchen gleich, die Haustür mit hydraulischem Gerät aufzudrücken. Der damit verbundene Krach weckt den Hausherrn, der mit seiner Freundin im ersten Stock schläft. Dass es sich bei den Eindringlingen um Polizisten handeln könnte, kommt ihm zu keinem Zeitpunkt in den Sinn. Im festen Glauben, der angekündigte Überfall der Bandidos stehe unmittelbar bevor, greift Becker nach seiner Pistole, tritt auf die Treppe und macht Licht. Das entgeht den Beamten draußen vor der Tür nicht: "Licht", melden sie einander. Trotzdem ändern sie ihre Einsatzstrategie nicht, sondern fahren wortlos und stumm darin fort, die Haustür aufzubrechen. Becker macht durch die Milchglasscheibe in der Tür die Schattenumrisse mehrerer Personen aus. Er glaubt sich in tödlicher Gefahr. "Verpisst euch!", schreit er. Doch das hören die Beamten nicht. Sie tragen Sturmhauben und Schallschutzhelme. Die Haustür ist fast geöffnet, da gibt Becker durch die Tür zwei Schüsse ab. Eine der Kugeln geht ins Leere, die andere trifft den Türöffnungsspezialisten durch das Armloch seines Schutzpanzers ins Herz. Jetzt geben die Beamten sich zu erkennen: "Sofort aufhören zu schießen! Hier ist die Polizei!" Becker läuft zum Fenster und beugt sich hinaus. "Wie könnt ihr so was machen?", ruft er den Beamten zu. "Warum habt ihr nicht geklingelt?"

Karl-Heinz Becker wirkt ganz anders, als man sich einen Hells Angel vorstellt. Er ist ein freundlicher Mittvierziger, der deutlich jünger aussieht. Ihm und seiner Lebensgefährtin, einer zurückhaltenden blonden Frau, kann sich an die Nacht noch gut erinnern. Immerhin hat sie Becker eine Anklage wegen Mordes und 20 Monate Untersuchungshaft eingebracht. Eine Zeugin aus der Nachbarschaft, erzählt das Paar, habe damals ebenfalls geglaubt, einen Raubüberfall zu beobachten. Die Frau habe die Notrufnummer der Polizei gewählt. Dass die vermeintlichen Räuber selber Polizeibeamte waren, sei auch für sie nicht zu erkennen gewesen.

Doch auch als geklärt ist, wer draußen steht, wagt es Becker zunächst nicht zu öffnen. Es hat einen Toten gegeben. "Draußen herrschte eine Riesenbrüllerei", erinnert er sich, "ich war überzeugt, die würden mich sofort erschießen." Als die Beamten im Haus sind, wird Becker zu Boden geworfen und misshandelt, obwohl er keinerlei Widerstand leistet. Der Gefängnisarzt stellt später ein blaues Auge und ein Hämatom am Geschlechtsteil fest. Man habe ihn geschlagen, erklärt Becker den Befund, ihm Hose und Unterhose ausgezogen und eine "Sonderbehandlung im Genitalbereich" angedeihen lassen.

Am 28. Februar 2011 wird Becker zu einer Freiheitsstrafe von neun Jahren verurteilt. Das Landgericht Koblenz ist zwar vom Mordvorwurf der Staatsanwaltschaft abgerückt, hat aber auf Totschlag erkannt. Eine "objektive Notwehrlage" habe zu keinem Zeitpunkt bestanden, heißt es im Urteil. Becker hätte in jener Nacht zunächst eine "Prüfung milderer Mittel" vornehmen und "um die Situation zu deeskalieren" einen Warnschuss abgeben müssen. Vom Verhalten der Polizei keine Rede.

Doch das Urteil der Koblenzer Richter hat vor dem Bundesgerichtshof keinen Bestand. Die Bundesrichter sprechen Becker am 2. November 2011 vom Vorwurf des Totschlags frei. Ganz abgesehen davon, dass den Richtern die gesetzliche Ermächtigungsgrundlage der ganzen Durchsuchungsaktion fragwürdig erscheint, seien derartige Maßnahmen "grundsätzlich offen durchzuführen". Becker habe sich durch die Warnung vor den Bandidos subjektiv bedroht gefühlt. Werde eine Person rechtswidrig angegriffen, sei sie berechtigt, sich zu wehren, heißt es im Urteil, und zwar mit dem Mittel, das eine "endgültige Beseitigung der Gefahr gewährleistet". Wer also - wie Becker - fürchten muss, von Verbrechern durch die Tür beschossen zu werden, habe weder die Zeit noch die Verpflichtung zur Abwägung der Mittel. Ein Warnschuss - an dessen "deeskalierender Wirkung" die Bundesrichter ebenfalls zweifeln - könne in dieser zugespitzten Lage nicht erwartet werden. Beide Schüsse seien aus der Sicht des Schützen "erforderliche Notwehrhandlungen" gewesen.

Die Polizei reagiert dem Richterspruch eingeschnappt. Zu keinem Zeitpunkt denkt man daran, unbesonnen oder gar rechtswidrig gehandelt zu haben und so den Tod des Kollegen und Familienvaters zu verantworten habe. Vielmehr organisiert sie künstliche Empörung. Der polizeizugeneigten Bild- Zeitung ist das Urteil gleich eine Titelgeschichte wert: "BGH lässt Polizisten-Killer laufen", heißt es auf Seite 1. Und die Redaktion prangert den Richter an, unter dessen Vorsitz der Strafsenat Becker freigesprochen hat, indem sie ein verschwommenes Foto von ihm abdruckt.

Minister und Polizeigewerkschaften ereifern sich in den Medien: Roger Lewentz, Innenminister von Rheinland-Pfalz, zeigt "absolutes Unverständnis" für die Auffassung der Bundesrichter, und sein hessischer Kollege Boris Rhein spricht von einem "Schlag ins Gesicht der Angehörigen". Der Bund Deutscher Kriminalbeamter zeigt sich entsetzt. Und Bernhard Witthaut, Vorsitzender der Gewerkschaft der Polizei, bezeichnet das Urteil in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung als "fatales Signal". Es führe letztlich dazu, dass "Schwerkriminelle glauben, sie dürften durch Türen schießen, wenn die Polizei sie festnehmen will".